Das Singen in unserem Land liegt am Boden. Zuhause wird nur noch wenig gesungen. Singkreise und Chöre werden alt und weniger, Schlager, Musikantenstadl – Bierseligkeit Fußballgröhlen sind kein Ersatz. Bei Wandervögeln klappt das Singen noch. Was ist zu tun?

Das Lied zum Singen
Was soll ich tun fragt die weise Dame
Die Deutschen sollten mehr singen
Annette Dasch über die Freue am Singen und die Kraft des gemeinsamen Liedes
Der weltberühmten Opernsängerin Annette Dasch bringt das Opernsingen viel Freude. Man ist selbstverantwortlich, wählt Literautur aus, befasst sich mit Lyrik und empfindet die Musik als Wege zur Spiritualität und Religiösität.
„Jeder Mensch singT gern, selbst Leute, die sagen, sie könnten es nicht…Das 3. Reich hat die Volksliedtradition vergiftet. Wer allerdings mal auf einer Skihütte erlebt hat, wie Schulklassen aus Estland, Italien oder England singen, und die Deutschen dagegen…“ Der musikunterricht würde immer mehr gekürzt und eingeengt. Und viele eltern meinten, Natgurwissenschaften und Englisch seien viel wichtiger.
„Wissenschaftliche Studien beleben und der gesunde Menschenversand verrät: Musizierende, singende Menschen sind insgesamt leistungefähiger, ausgeglichner, sozialer und fröhlicher. Es geht beim Singen um Ganzheitlicheit, um Diszipin, um gruppenerlebnis. Wenn 50 Menschen einen Kanon singen, ist das erhebend. Und es rührt an eine Schicht im Menschen, die nicht so oft angesprochen wird. Das berührt Geheimnisse.“
Was haben wir im Wandervogel mehr als unsere Lieder zu bieten?
Und wohnst du weitab von anderen Wandervˆgeln, dann str‰ube Dein Gefieder und geh auf Fahrt, um Dich mit anderen zu treffen, mit ihnen zu singen, zu feiern. Unser Liedschatz ist unsere St‰rke.
Die weiteren Kernpunkte unseres Bundes (Weist¸mer genannt) gilt es in Freude und Freundschaft zu leben.
Ich fasse ich zusammen:
1. Bund
Unser Bund ist eine Gemeinschaft weltweit Gleichgesinnter Wandervˆgel, die sich der Sache und einander verbunden haben. Gemeinschaft, Milieu, Atmosph‰re werden durch sie gepr‰gt. Wir wollen unser Leben in Gemeinschaft und Freundschaft selbst gestalten.
2. Fahrt
Leben heiflt unterwegs zu sein, gemeinsam und auch allein. Fahrt ist Bew‰hrung, unterwegs, im Beruf, in der N‰he, in Beziehungenjeder seinen eigenen, freien, selbstbestimmten Weg zu gehen Mit Achtung vor Vˆlkern, Menschen und Natur.
3. Kultur-Natur
Kultur ist f¸r uns besonders Mitmachkultur mit Singen, Musizieren, Tanzen, Festen. Jurte, Festtafel, Wandervogel-Olympiade, Spiele, Bigband, Konzerte und Vortr‰ge, Instrumente, Tanzsaal, Feuer, Lied, Wanderungen, Tschai und T‰nze gehˆren. dazu. Vielfach finden unsere Feste drauflen in der Natur statt. Vˆgel, andere Tiere, B‰ume, blumen sind uns wichtig. F¸r Mitmachkultur und Erhaltung von Natur und Kulturerbe setzen wir uns ein.
4. Bildung
Menschenw¸rde und Fˆrderung aller Menschen sind uns Anliegen. Zu uns gehˆren Menschen aus merheren Vˆlkern. Wir setzen uns f¸r bessere Bildungsvoraussetzungen ein. Dazu gehˆrt f¸r uns eine gute Sprache. Mit unserer Einstellung st‰rken wir Menschen, schaffen Vertrauen und erzeugen Lernfreude.
Ausblick
Viele Menschen sind Wandervˆgel, ohne es zu wissen. Es f‰llt uns nicht schwer, sie zu ¸berzeugen, in unserem Bund mitzuwirken, da unser Bund Zukunft hat.
Selten gewinnst du in unserer Gesellschaft so leicht Freunde, findest Freude, triffst ein Milieum an f¸r Dich, f¸r Kinder und Familien, f¸r Atmosph‰re in Gemeinschaft Natur und Kultur zu geniflen.
Wenn Du gern singts, musizierst, Gruppen magst und mitmachst, dann bist Du auf dem Weg des Wandervogels. Der Weg ist das Ziel.
Wenn Du eine Zeit mitgemacht und Dich eingebracht hast, bekommst Du – wenn Du magst – den Goldgreifen des Wandervogel verliehen. Dann gehsˆrst Du zu unserem Bund. Du brauchst keinem Verein beizutreten. Wir freuen uns, wenn Du unseren Bund durch Deine Taten fˆrderst und unterst¸tzt.
Gemeinsame Freude ist unsere Devise.
Siebzig Jahre Volksliedersingen, Beobachtungen und Erfahrungen
Jochen Senft
Seit siebzig Jahren singe ich Volkslieder und beobachte, was beim Singen geschieht. Als Kind sang meine Mutter mit zwei Geschwistern und mir. Später sang ich mit anderen Kindern. Bei den Pimpfen und in der Hitlerjugend wurde viel gesungen. Dort lernte ich die verheerende Wirkung von Hetzliedern kennen. Im alten „Kilometerstein“ des Voggenreiterverlages sind einige zu finden.
Nach dem Krieg sang ich mit Pfadfindern. Wir sangen zur Gitarre, ohne Noten und auswendig. In meinen Gruppen wurde nicht gegrölt. Unsere Lieder waren Ausdruck von uns selbst. Wenn sie in der Schule gesungen wurden, empfanden wir sie als „entweiht“, weil Schulklassen häufig mißgestimmt sangen. Wir sangen die Lieder so gut wir konnten, aber wir probten nicht wie im Schulchor. Schon gar nicht wurde dirigiert. Unser Singen war urtümlich und völlig unakademisch. Wir sangen wie unsere Vorfahren vor tausend Jahren und nicht wie in der Schule. Viel später entdeckte ich, daß wir dem Volkslied sehr nahe waren. Es wurde nicht am Notenpult komponiert.
Sänger haben in der Regel ein gut ausgebildetes Zwerchfell, das ihren Atem unterstützt, die Tongebung und Lautstärke beeinflußt. Über weite Entfernungen verständigt man sich nicht durch Sprechen, sondern durch Gesang. In meiner Kindheit hörte ich Straßenhändler ihre Waren singend darbieten. Auch Schornsteinfeger sangen ihre Termine aus. Sprechend hätten sie es nicht gekonnt.
Volkslieder gab es, bevor Menschen lesen und schreiben konnten. Sie wurden gesungen, um glücklich zu sein. Ehrgeiz von Chören und von ihren Dirigenten schadet Sängern; denn Ehrgeiz macht nicht glücklich. Bei Singewettstreits und bei Schallplattenaufnahmen habe ich es oft miterlebt.
Wer mit Anderen zusammen singt, muß auf sie hören und sich auf sie einstellen, bevor es klingt. Es dauert mehrere Lieder, bevor eine Gruppe eingesungen ist. Wie das geschieht, ist den Singenden nicht bewußt. Lieder wollen frei heraus gesungen werden. Wer auf Noten achten muß, kann sich nicht Anderen zuwenden und bleibt bei sich selbst. Infolgedessen stimmt er sich nicht mit den anderen ab. Selbst bei geschulten Chören mit hervorragenden Dirigenten dauert es lange, bis die Sänger beim Singen frei und glücklich sind. Viele Sänger müssen mühsam ihre Stimme auswendig lernen und sind traurig, wenn das erlernte Stück nicht mehr gesungen wird, sondern durch ein neues abgelöst wird.
Geübte Chorsänger sind mit Noten vertraut und singen vom Blatt. Häufig spielen sie ein Instrument und können sich in die Notenliteratur einarbeiten. Viele Chorsänger aber sind, was Notenlesen anbetrifft, musikalische Analphabeten und üben mühselig. Beim Singen von Volksliedern spielt das keine Rolle.
Der Text der Lieder ist wichtiger als die Melodie. Wer Strophen schematisch absingt, zerstört den Sinn des Gesangs. Daran leidet die Darbietung vieler Volkslieder. Kinder leiern Lieder schematisch, weil sie der Melodie anhängen und Texte noch nicht verstehen.
In der Bündischen Jugend wurden Natur- und Liebeslieder durch heldische Texte ausgetauscht, weil Jungen von Liebe nichts wissen wollten. So wurde aus dem schwedischen Frühlingslied „Varwinda friska leka“ ein Heldengesang. Die Inhalte sind häufig pubertär. Es fehlen Lieder, die Neunjährige singen mögen, und die auch Erwachsene gern singen, ohne sich genieren zu müssen. Zwei ganz unterschiedliche Beispiele sind : „Bin ja nur ein kleiner Hirtenjunge“ aus Finnland und die Marmotte von Goethe mit der Melodie von Beethoven. Es ist wichtig, daß Kinder Lieder singen lernen, die sie auch als Erwachsene singen können; aber die Texte müssen für junge Menschen geeignet sein. Erwachsene lernen selten neue Lieder und genieren sich.
Von Chören vorgetragene Volkslieder leben nicht, wenn sie nicht mitgesungen werden. Ein Vortrag ist kein Volkslied. Nur, wenn ich es selber singe, lebt ein Volkslied. Das ist eines der beiden Kennzeichen eines Volksliedes. Das andere Kennzeichen ist: Der Sänger muß im Lied mit seinen Empfindungen vorkommen. Das unterscheidet Volkslieder von Propagandaliedern und von Kampfgesängen, deren Inhalte meist von außen aufgesetzt sind.
Volkslieder haben mit Volksmusik nichts zu tun. Diese ist kommerziell, dient zur Unterhaltung und wird durch Fernsehen verbreitet. Wesentlich am Lied ist der Text. Alle guten Sänger gestalten ihren Gesang von den Worten her. Erst, wenn der Sinn erfaßt und dargestellt ist, wird ein Lied lebendig. Sonst ist es schematisch und langweilig. Dann lebt es nicht, sondern es stirbt wie ein langweiliges Gespräch. Wer aber hat so singen gelernt? Kleine Kinder bekommen „Alle meine Entchen“ vor-geplärrt und machen ihr Leben lang so weiter, wenn nicht jemand kommt und es anders zeigt.
Im Singen ihrer Lieder zeigen Gruppen, daß sie glücklich sind. Wer früher in Jugendgruppen war, hat als eine der schönsten Erinnerungen das Glück gemeinsamen Singens. Als Erwachsener genießt er erinnernd dieses Glück, wenn er mit mir singt. Menschen singen gern mit mir, weil man mir nachsagt, daß ich mich gut in Volkslieder einfühlen und sie interpretieren kann
Volkslieder drücken auch Trauer aus und verarbeiten sie, so daß Trauernde wieder gesund werden, indem sie Verlorenes loslassen. Der Gestalttherapeut Jorgos Canacakis hat das in seinem Buch : „Ich sehe deine Tränen“ eindrucksvoll beschrieben. Mitsingende helfen; denn Trauer kann nicht allein verarbeitet werden, sondern in einem Netzwerk von Beziehungen. In Trauerseminaren habe ich bewußt damit gearbeitet und erlebt, wie Trauernde losließen und gesund wurden. Meine Meditationen halfen, den Sinn der Lieder zu verstehen. Über Volkslied und Trauer habe ich ausführlich an anderer Stelle berichtet.
In vielen Gemeinden Schleswig-Holsteins habe ich mit Senioren gesungen und erlebt, wie alte Menschen in einer Sinntherapie, wie Frankl sie beschreibt, wieder jung wurden. Ohnehin sehen ältere Menschen um Jahre jünger aus, wenn sie eine Weile miteinander gesungen haben. Sehr nachdenklich machen Alzheimerkranke, die beim Volksliedersingen mitmachen, während sie sonst keine Beziehung zur Umwelt ausdrücken können. Volkslieder müssen ganz tief in ihnen verwurzelt sein.
Psychotherapeuten wie Sigmund Freud und viele andere sehen als Ziel ihrer Therapie, daß Menschen wieder im Hier und Jetzt leben, daß sie da sind. Das geschieht bei Menschen, die miteinander singen. Ich lebe am Waldrand in den Hüttener Bergen. Wenn ich morgens aufwache und aus dem Fenster schaue, singe ich mit Goethe : „Wie herrlich leuchtet mir die Natur, wie lacht die Sonne, wie glänzt die Flur“, und fühle mich glücklich. So geht es mir auch bei Liedern, wenn ich sie zusammen mit vielen anderen singe. Singen heilt.
Singende haben ihre Wahrnehmung geschult und achten auf Dinge, die andere nicht sehen, ähnlich wie Aborigenes in Australien Dinge sehen und hören, an denen Europäer achtlos und stumpfsinnig vorüber gehen, weil europäisches Denken deren Wahrnehmung nicht zuläßt.
Seit der Aufklärung steht das Individuum im Mittelpunkt. Aufklärung ist nach Immanuel Kant Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sie hat das Ich gelehrt, sein Schicksal zu meistern und über sich selbst zu bestimmen. Aber Aufklärung hat dafür teuer bezahlt. Sie kennt kein Du, kennt nicht den Nächsten, hat das Individuum einsam gemacht und beziehungslos. Im gemeinsamen Singen sind wir wieder mit Anderen zusammen, ohne zu wissen, wie das geschieht. Wir sind glücklich. Wir sind da. Wir sind zusammen, und wir sind eins.
Das geschieht leider nicht mehr von selbst, wie vor Tausenden von Jahren. Mit dem Aufkommen von Radio, Tonträgern und Fernsehen lassen sich Menschen berieseln, sind nicht mehr selbst aktiv und verlieren die Fähigkeit, andere Menschen wahrzunehmen. So entstand die Behauptung, das Volkslied sei tot. Dagegen spricht das jährliche Aschbergsingen jeweils am letzten Freitag im Juni um 18.30 Uhr auf der Aschbergtribüne in Ascheffel. Es ist in zweiundzwanzig Jahren von sechzig auf siebenhundert Sänger angewachsen.
Viele von den Mitsingenden waren früher in Jugendgruppen gewesen. Die Mitsingenden haben Texthefte, ich begleite sie mit der Gitarre und gebe Hinweise, wie die Lieder gesungen werden wollen. Die vielen Menschen singen, ohne daß jemand dirigiert und hören aufeinander.
Deutsches Volkslied war in Hände von Menschen geraten, die sich über die Eigenart von Volksliedern wenig oder gar keine Gedanken gemacht hatten. Ihr Vortrag wurde durch Massengeschmack verkitscht, so daß Jugendgruppen sich vom deutschen Volkslied zurückzogen und Lieder anderer Völker bevorzugten, die noch unverbraucht erschienen. Skandinavien, Rußland und der Balkan bieten wunderbare Volkslieder, die von ihnen gern gesungen wurden.
Bürgerliche Musikkultur machte Volksliedsingen verächtlich und schätzte Kunstfertigkeit mehr als Glücklichsein, Da-Sein, Zusammen-Sein und Eins-Sein. Dabei hatten unsere größten Dichter und Komponisten vor Volksliedern Hochachtung. Eichendorf, Goethe, Claudius, Heine, Storm, Mozart, Schubert, Schumann, Brahms, Mendelssohn und Bartok haben Volkslieder geschrieben oder vertont. Angesichts solcher Größen ist Geringschätzung gegenüber Volksliedern unangebracht. Berühmte Opernsänger haben vor Volksliedern gehörigen Respekt. Volkslieder werden tot gesagt, weil sie gegenüber Schlagern in Radio und Fernsehen selten zu hören sind. Der Musikbetrieb ist kommerziell. An Schlagern wird Geld verdient, an Volksliedern nicht, weil sie selbst gesungen werden müssen. Stattdessen gibt es sogenannte Volksmusik. An ihr läßt sich kräftig verdienen. Schlager können sehr gut sein und zu Herzen gehen, wenn man sie selbst singt. Sonst werden sie nicht lebendig.
Gut Singen habe ich nicht in der Schule gelernt, und es lag nicht immer an den Lehrern, sondern auch an Mitschülern. Richtig Singen lernte ich nicht in der Gruppe, sondern viel später, als ich von begabten Künstlern unterrichtet wurde.
Am stärksten beeinflußt hat mich Walter Gerwig, Professor für Laute in Köln, der in den fünfziger Jahren die Bachsuiten für Laute bei der Archiv-Produktion der deutschen Grammophongesellschaft eingespielt hatte. Als Wandervogel fing er mit der Klampfe an und wurde zum bedeutendsten Lautenspieler Deutschlands. Er befreite mich mit seinen von der Melodie her entwickelten Liedbegleitungen vom schematischen „Schrumm-Schrumm“ bündischer Klampfer. Dazu lehrte er, den Sinn der Texte darzustellen.
Volkslieder wollen auswendig gesungen werden. Auswendig singen heißt: Sänger gehen aus sich heraus und wenden sich einander zu. Das war Jahrhunderte so. Papier war teuer. Lesen und Schreiben konnten nur wenige. Bei der Arbeit hatte man keine Hand frei, um Liederbücher zu halten. Abends im Dunkeln konnte man nicht lesen, aber man sang auswendig und miteinander. Beim gemeinsamen Singen sangen sie Gefühle heraus, die einer allein vor anderen nie gesagt hätte und befreiten sich.
Als es noch kein Radio und Fernsehen gab, sang man Volkslieder und war aktiv. Selber Singen ist wie selber Küssen. Gemeinsames Singen bewirkt Identität. Glückshormone werden frei und stimmen froh. Es sind aber nicht die Hormone, sondern die Gefühle. Sie erzeugen die Hormone und weisen nach, daß empfundenes Glück real ist. Nichts läuft schematisch, chemisch oder mechanisch ab.
Heute läßt man sich unterhalten.
Volkslieder werden lebendig, wenn sie gemeinsam mit Anderen selbst gesungen werden. Erst dann erleben wir, was sie einem geben, ähnlich wie ein Gespräch, das durch Zuhören, Fragen und Antworten erst schön wird. Singen in der Gruppe auf alte Weise ist dazu eine gute Vorbereitung.